Ich lese mit Stift. Immer. Aber meistens nur spärlich, ich versuche nicht zu viel zu markieren, um einen roten Faden zu definieren und gelungene sowie zu hinterfragende Stellen wiederzufinden. Aber noch nie habe ich in einem Roman so viel markiert, wie in 'Entkommen' von Joshua Groß. Was das bedeutet? Ein Einblick:
Groß war mir bereits durch seinen Roman 'Flexen in Miami' ein Begriff, aber sein neuer Roman hat einiges umgeworfen, was ich bisher zu wissen glaubte. Der Roman besteht aus zusammengewürfelten Texten, die in Teilen bereits veröffentlich waren und unter dem Thema des Entkommen ergänzt und zu einem Roman umgeschrieben wurden. Die Transzendierung der Gegenwart, wie schon im Klappentext versprochen, wird eingelöst. Präsentiert werden einzelne kleine Welten mit dystopischem Charakter, kaum zu unterscheiden, wo Fakt aufhört und Fiktion beginnt. Hinzu kommt, dass Figuren mit Verweis auf reale Personen auftauchen, wie A$AP Rocky, Borges oder Foucault. Allerdings ist eine Differenzierung von Figur und Person nicht von Bedeutung – grundsätzlich könnte hier alles so passiert sein, denkt man zum Beispiel an den zu Beginn auftretenden tweetenden Wrestler Alchemist Teaz, der in seinem Wahn eine Stadt zu zerstören droht. Es ist vermutlich der erste Roman überhaupt, in dem A$AP Rocky und Foucault in einem Satz vorkommen und das in äußerst unterhaltsamer Manier:
Ein Gespräch zwischen A$AP Rocky und Foucault. A$AP Rocky: 'Ich warte doch nur darauf, dass sich mir die Bedeutungen offenbaren, ist das nicht auch romantisch?' Foucault: 'Wir müssen uns nicht einbilden, dass uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. (Joshua Groß: Entkommen, S. 261)
Die Stilisierung der Gegenwart ist die Voraussetzung für das Erleben der Figuren und erscheint deshalb auch nicht allzu fremd beim Lesen. Zwar bewegen sich die Figuren mit invasiv eingesetzten Neuronenchips oder möchten Symbionten werden, aber ihre Gefühle bleiben zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbar und transparent. Zu keinem Zeitpunkt entfremdet sich eine Figur dem Lesenden, sondern rückt ihm – wenn möglich – nu noch näher. Und das ist verblüffend, wenn man bedenkt, dass die Übertreibung und Entfremdung durch Stilisierung als Leitmotiv des Entkommen verstanden werden könnte. Es bedarf also literarischem Feingespür diese scheinbare Opposition aufzulösen und in eine fiktive Welt zu transportieren.
Die einzelnen Texte des Romans, insgesamt sind es drei große Abschnitte, die jeweils Unterkapitel aufweisen, scheinen mal mehr, mal weniger zusammen zu hängen und bilden dann doch am Ende des Romans ein großes Bild, das seinen großen Wert ausmacht. In jedem Text wird eine eigene kleine Welt entworfen. Kurze, kolumnen-artige und längere und auf Roman-Ebene auszudehnende Plots. Dabei erfolgt die Gestaltung der einzelnen Abschnitte so gelungen, dass es fast schade ist, wenn man diese wieder verlassen muss, weil sich noch zahlreiche Fragen an den Text ergeben, die die Haraway-Zitate nicht allein wettmachen können. Die Vermischung von einerseits der Suche nach Wahrheit auf literarischer Ebene und andererseits die theoretischen Hintergründe dieser Diskussion um das Konzept des Posthumanismus, um ein mögliches Anthropozän, wie es bei Haraway und Tsing nachzuverfolgen wäre, wird immer mal wieder in den Roman hineingeworfen, aber nicht weiter ausgeführt oder mit den Figuren verknüpft. Nichtsdestotrotz gelingt die literarische Umsetzung der großen Fragen an die Menschheit, an das Selbst und an die Wahrheit hervorragend und dabei ist besonders die Diversität, mit der Joshua Groß an sie herangeht, hervorzuheben:
Na ja. Die Welt interessiert sich quasi nicht für uns, aber wir zerstören sie trotzdem; es ist unsere Aufgabe, eine Lebenspraxis zu entwickeln, die nicht komplett fragwürdig ist. Und ich habe keine Lust mehr darauf, immer nur über Bewältigungen nachzudenken. ( S. 261)
Ein Zitat, das nicht nur markiert, sondern mit einem Ausrufezeichen versehen werden sollte, denn was Groß hier gelingt ist eine Erweiterung der Perspektive individueller Ansätze auf öffentliche und gemeinschaftliche. Eine wichtige Botschaft, die den Roman ausklingen und über die Fragen nach der Bedeutung von Ritualen und gemeinschaftlichen Prozessen nachdenken lässt. So wird dem Entkommen ein weitaus philosophischeres Statement zugesprochen, als anfangs vermutet und es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die vielen (nötigen) Markierungen die Qualität und Tiefgründigkeit des Romans unter Beweis stellen.
Liebsten Dank an den Matthes & Seitz Verlag für das Bereitstellen des Rezensionsexemplars!
Joshua Groß: Entkommen.
Erschienen am 18. März 2021
ISBN: 978-3-95757-940-9
Preis: 22,00 €
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