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Rezension 'Der Hals der Giraffe'

Aktualisiert: 11. Dez. 2020

Judith Schalansky, die zuletzt 2018 ihren neuen Roman "Verzeichnis einiger Verluste" herausbrachte, ist als Schriftstellerin mit ihrem Werk 'Der Hals der Giraffe' (2011) ein Coup der deutschen Gegenwartsliteratur gelungen. Der Bildungsroman zeugt von solcher Intensität, dass es fast unmöglich erscheint sich der Dringlichkeit seiner Sprache und seines Inhaltes zu entziehen. Sie bricht mit dem Habitus des Umsich-Werfens von Adjektiven, Hypotaxen und kunstvollen Konjunktionen. Ihr Stil ist schlicht, aber eindringlich. Schalansky bringt auf knapp 200 Seiten auf den Punkt, was vor ihr wenige Autor*Innen schafften, nämlich eine Akzentuierung des simplen Umgangs mit Sprache, der aber gerade durch seine Schlichtheit höchste Ausdruckskraft erhält. Es ist besonders die Monoperspektive, die ihren Roman kennzeichnet und zu einem der besten Romane dieser Zeit macht.



Im Vordergrund steht die Biologie- und Sportlehrerin Inge Lohmark, die als heterodiegetische Erzählerin den Leser durch ihren Alltag führt. Der Leser gewinnt Einblicke in ihren Lehrstil sowie Denkmuster. Ihr Frust über das absteigende Wissensniveau ihrer Schüler sitzt tief. So konturiert sie jeden vor sich sitzenden Schüler eingehend, bildet sich eine Meinung über ihn, urteilt und verurteilt. Ihr Blick scheint vornehmlich wissenschaftlich zu sein, die Wortfelder der Biologie entnommen, das Klassenzimmer als Biotop. Der Leser begleitet Inge durch ein Schuljahr, bestehend aus dem Weg zur Schule, den sie nach einem Defekt am Auto gemeinsam mit ihren Schülern bestreiten muss, und den sich immer wiederholenden Schulstunden, in denen sie nicht auf Kreativität und Abwechslung im Lehrplan, sondern auf altbewährte Muster setzt. Die Passivität, mit der sie ihren Alltag bewältigt, wird ihr letztendlich zum Verhängnis.


Im Verlauf des Romans lässt sich einiges über Inge Lohmark erfahren, wobei sich selten das Gefühl ergibt, sie als dreidimensionale Figur zu erfahren. Die Ehe zu Wolfgang, dem Zoologen, scheint nicht vor Leidenschaft zu glühen, ihre Tochter Claudia lebt in den USA, soziale Kontakte kaum vorhanden. Das Leben wird im Schnelldurchlauf gezeigt und trotzdem scheint es, als würde ihr Alltag stagnieren, die Luft zum Atmen in einem zu schlecht beleuchteten Klassenzimmer verschwinden. Es ist nur eine Bestandsaufnahme, die hier gemacht wird. Eine Bestandsaufnahme, die erschreckend und verstörend wirkt und dennoch ihren Kern nicht vollkommen verfehlt.

 

Schalansky gelingt es in diesem Buch ein Klassenzimmer zum Leben zu erwecken. Erinnerungen werden wach an Kreidestaub, Tafelwasser, Tageslichtprojektoren und angekaute Stifte. Unruhiges Umherrutschen auf dem Stuhl, Abfragen über Genetik, unaufgefordertes Drankommen. Ein bisschen fühlt es sich an, als wäre man selbst zurückversetzt in diese Zeit, würde selbst den Nervenkitzel erleben, der hinter dieser Fassade steckt. Und es scheint eine Zeit zu sein, die noch längst nicht vergangen, sondern in dieser Sekunde sich in hunderten Klassenzimmern auf dieselbe Art und Weise abspielt. Eine Warnung an das Schulsystem. Ein bildender Roman. Ein Bildungsroman.


Quelle: Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Berlin 2012.

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